Schlussfolgerungen aus 10 Monaten Lehrstellensuche meiner T?chter und Vorschl?ge zur Entsch?rfung der Lehrstellenknappheit in der Schweiz
Milko van Rijn
Digital Anthropologist, General Manager / Global AI Marketing Leader, Strategist, Volunteering Coach & Author.
Vor 10 Monaten verschickten meine T?chter ihre ersten Lehrstellenbewerbungen, aber erst jetzt konnte sich die zweite eine Lehrstelle sichern. Dazwischen liegen ca. 150 Bewerbungen, 148 kleinere und gr?ssere Entt?uschungen, viel Unsicherheit, viel investierte Zeit und ein viraler Social Media-Post.?
Wenn man sich intensiv mit einem Problem oder einer Aufgabe auseinandersetzt, dann gewinnt man mit der Zeit Einblicke und wertvolle Erkenntnisse. Diese m?chte gerne mit euch teilen, denn vielleicht k?nnen sie auch anderen helfen, die ganze Lehrstellenproblematik besser auszuleuchten.
Der Social Media-Post - respektive die Reaktion von unz?hligen Nutzern - hat Fay's Spiessrutenlauf den entscheidenden 'Twist' gegeben. Die Resonanz war überw?ltigend und wir sind noch heute beeindruckt von den vielen Kommentaren, der positiven Energie und den unz?hligen Nachrichten. Insgesamt haben sich über 2000 Menschen mit Hinweisen und Motivation engagiert. Das Thema schien wirklich viele Menschen zu berühren.
Wir haben also in letzter Zeit viel Positives erlebt, aber wir wurden auch immer wieder auf Punkte aufmerksam, die es wahrscheinlich mehr Schüler:innen schwer machen, eine passende Lehrstelle zu finden, als wir denken. Alle im Berufsbildungsprozess beteiligten Parteien k?nnen noch das eine oder andere verbessern.
Wie zeigte sich, dass ein Problem besteht: Fay schien es bei 100 Bewerbungen praktisch nie über die erste Selektionshürde zu schaffen. Sie wurde in 8 Monaten lediglich zweimal zu einem pers?nlichen Interview eingeladen. Wenn sie es dann aber mal geschafft hatte, konnte sie überzeugen und kam beide Male in die aller letzte Auswahlrunde für eine Lehrstelle. Wir wussten also, dass Fay im pers?nlichen Gespr?ch einen guten Eindruck machte, aber dass sie nur in 2% aller Bewerbungen überhaupt die Chance erhielt, pers?nlich mit Ausbilder:innen in Kontakt zu treten.
Nach vielen Experten-Inputs und Optimierungen am Bewerbungsschreiben und Lebenslauf, schienen Fay's eher unspektakul?re Schulnoten der Sek A und der Notenschnitt von 4.3 noch der einzige Schwachpunkt im Bewerbungspaket zu sein. Sie war zum Beispiel in der Mathematik w?hrend der ganzen Oberstufenzeit in der h?chsten Leistungsstufe (Sek A – Niveau 1), aber dort schnitt sie im Vergleich zu ihren Klassenkamerad:innen unterdurchschnittlich ab. Sie dümpelte in der Mathematik immer zwischen einer Note von 3.5 und 4.5 und herum (je nach Thema). Da Franz?sisch auch nicht ihre Paradendisziplin ist, blieb ihr Notenschnitt w?hrend fast der ganzen Oberstufe knapp unter einer 4.5. Da die Unternehmen kaum je einen konkreten Grund für ihre Absagen nannten, gehen wir davon aus, dass ihr Notenschnitt von 4.3 nicht den Vorselektionskriterien der Unternehmen entsprach und sie in 98% der Bewerbungen schon vor dem ersten Gespr?ch aussortiert wurde.
Wir haben vier Probleme und Symptome identifiziert, welche direkt miteinander und mit der Verwendung des Notenschnitts als Vorselektionskriterium zusammenh?ngen:
1.????Es besteht in vielen Berufen und Regionen ein Nachfrageüberhang. Das heisst, es gibt weniger Lehrstellen, als es br?uchte, um jeder/m Schüler:in eine realistische Chance zu geben, den für ihn/sie passenden Beruf zu erlernen - nicht einmal jeder/m Sek A-Schüler:in
2.????Der Nachfrageüberhang führt dazu, dass Unternehmen teilweise mit bis zu 500 Bewerbungen pro Lehrstelle 'überflutet' werden, was den Rekrutierungs-prozess der Unternehmen kosten- und zeittechnisch herausfordert
领英推荐
3.????Die Flut an Lehrstellen-Bewerbungen veranlassen/zwingen die Unternehmen, zus?tzliche und einfach anwendbare Vorselektionskriterien einzuführen. Dies ist dann üblicherweise der allgemeine Notenschnitt aus der Sekundarschule. Oft kommunizieren Firmen auch schon im Lehrstelleninserat, dass zum Beispiel keine Bewerbungen angenommen werden, die keinen Mindest-Notenschnitt von 4.5 oder sogar 5.0 vorweisen k?nnen.
4.????Das Ergebnis ist, dass durchschnittliche und unterdurchschnittliche Schüler:innen nur schwer eine Lehrstelle finden, obwohl sie die Sek A abschliessen und teilweise sogar in den h?chsten Leistungsniveaus eingeteilt waren.
Was ich lernen konnte: F?rdern und fordern ist gut, aber: Bei der Einteilung der Leistungsniveaus innerhalb der Sek A (im Kt. Zürich bei Franz?sisch und Mathematik) würde ich meine T?chter heute eine Stufe tiefer ansetzen (Niveau 2 statt Niveau 1), damit sie im Zeugnis tendenziell bessere Noten erzielen, ein positiveres Erlebnis ihrer eigenen Leistung haben und bei der Lehrstellensuche bessere Chancen haben, die erste Selektionshürde (Selektion nach Zeugnisnoten) zu überstehen. Die Niveaus werden n?mlich von den ausbildenden Unternehmen kaum berücksichtigt. Es wird lediglich der Notenschnitt bewertet.
Was wir alle verstehen müssen: Firmen erhalten bis zu 500 Bewerbungen oder mehr für eine einzige Lehrstelle. Die Selektionsverantwortlichen k?nnen daher fast nicht anders, als einen harten Schnitt nach Sek-Durchschnittsnoten anzuwenden, um die Anzahl der Bewerbenden soweit zu reduzieren, dass ein vertretbar effizienter Rekrutierungsprozess überhaupt m?glich wird.
Unternehmen müssen einsehen: Ein guter Sek-Notenschnitt macht noch keinen guten Lehrling/Lehrtochter. Durch die Forderung eines Minimum-Notenschnitts von 4.5 oder 5.0 finden sie zwar tendenziell leistungsf?higere Schüler:innen, aber sie verpassen m?glicherweise doch das eine oder andere grosse Berufstalent, nur weil dieses in der Sek keinen perfekten Notenschnitt vorweisen konnte. Darum sollten Unternehmen ALLE Bewerbungen zumindest 'screenen' und nach guten Lebensgeschichten, Argumentationen und nach Talentzeichen suchen. Bei etwas Routine schafft man gut und gerne10 – 12 Screenings pro Stunde. Es ist Arbeit, aber wir leben in einer Zeit, in welcher Menschen die knappste aller Ressourcen sind ('War for Talent').
Dieses Problem müssen die Kantone l?sen: Solange der Nachfrageüberhang bei Lehrstellen so ausgepr?gt ist, funktioniert eine zweite Leistungsniveau-Unterteilung innerhalb der Sek A nicht, denn das Resultat ist dann so, dass die Schüler:innen tats?chlich mit verschiedenen Massen benotet werden. Eine 4 ist heute nicht mehr einfach eine 4, denn sie ist nur im Zusammenhang mit der Niveau-Einteilung aussagekr?ftig. Eine 4 in Mathematik-Niveau 1 ist also steht für eine andere Leistung als eine 4 im Mathematik-Niveau 2. Das Problem ist aber, dass Unternehmen genau diese zus?tzliche Niveau-Einteilung bei der Rekrutierung zu wenig berücksichtigen oder ganz ausser acht lassen. So kommt es, dass die 'schlechtere' H?lfte einer Sek A + Mathematik Niveau 1 –Klasse mehr Mühe hat, die Vorselektion nach Noten zu überstehen, weil sie nach den h?chsten Anforderungskriterien bewertet werden, solange ein Fach im Niveau 1 besuchen. Vielleicht finden diese Schüler:innen auch gar keine Lehrstelle, weil sie erstens schon vor dem ersten Bewerbungsgespr?ch aus der Selektion fallen und zweitens, weil es Firmen gibt, die aus Risiko-Gründen lieber eine Lehrstelle unbesetzt lassen, als sie mit einem Lernenden zu besetzen, der in der Schule keinen 4.5er Schnitt hat. So kommt es, dass in der Schweiz jeder Jahr ca. 10% der Schüler:innen keine Lehrstelle finden, und gleichzeitig über 1'000 bewilligte Lehrstellen unbesetzt bleiben.
Wo Unternehmen und Kantone zusammenarbeiten müssen: In einer Zeit, in der wir gelernt haben, dass man bei Unternehmen die Gleichstellung von Mann und Frau mit Quoten durchsetzen muss, dann sollten wir uns auch überlegen, gezielt mehr Fachkr?fte ausbilden zu k?nnen, indem wir eine Quote für Lehrstellen einführen, die das Angebot steigert, die Lernenden besser auf die Unternehmen verteilt und so es ausbildenden Unternehmen erlaubt, jede Bewerbung zu gewissenhaft zu prüfen. Denn wie kann es sein, dass internationale Grosskonzerne wie Microsoft, Salesforce oder Apple mit ihren Niederlassungen von den exzellent ausgebildeten Mitarbeitern profitieren, selber aber keinen Beitrag zur Schweizer Berufsbildung leisten und keine Lehrstellen anbieten? Weiter müssen die Kantone in Zusammenarbeit mit den Unternehmen den dicken Anforderungskatalog für Lehrstellengenehmigungen vielleicht etwas verschlanken, praxisorientiert und flexibler machen, damit sich auch die fast 20'000 KMUs in der Schweiz mit 20 – 50 Mitarbeiter:innen einfacher an der Berufsbildung beteiligen k?nnen.
Was die Schulen ?ndern müssen: Bringt bitte den Stoff und die Lehrmittel für das Fach 'Berufswahl' ins 21. Jahrhundert und holt euch bitte professionelle Unterstützung von HR-Consultants, Personalverantwortlichen und Karriere-Coaches. Es ist nun einfach so, dass man 'Berufswahl' nicht wie Mathematik lehren kann, denn – anders als in der Mathematik – ver?ndert sich in der Berufswahl jedes Jahr etwas: Einige der Berufe, die ihr im Unterricht besprecht, wird es in 10 Jahren aufgrund der Digitalisierung und Elektrifizierung gar nicht mehr geben. Eure Lebenslauf-Vorlagen sind teilweise aus den 80er- oder 90er-Jahren und ja, heute bewirbt man sich mit Farbe, Video und selbstlaufenden Pr?sentationen - und man verschickt für meisten Berufe keine gedruckte 'Papier-M?ppli' mehr (darum ist auch das berühmte 'Deckblatt' nicht mehr zeitgem?ss).
Ich hoffe, ich konnte etwas davon weitergeben, was ich zum Thema 'Lehrstellensuche' glaube gelernt zu haben und idealerweise konnte ich sogar die eine oder andere in der Berufsbildung t?tige Person mit neuen Ideen inspirieren. Gerne lese ich von ihren eigenen Erfahrungen und Eindrücken in der Kommentarspalte.
Fachinformatiker Netzwerke
1 年J.C. Rembrandt Finde es eh auf den Kopfgestellt das sich Kinder/Jugendliche auf eine Ausbildung bewerben müssen. Es hat aber auch Vorteile. Aber meiner Meinung übertreffen die Nachteile ganz klar.
Trends, facts and profiles for a great Customer Experience
1 年Ich freue mich, dass auch Fay einen Ausbildungsplatz hat.
Dein Artikel bringt vieles auf den Punkt. Alle streben in nach Gymi oder die SekA und da noch ins obere Niveau. Doch auch gute SekB-Schüler haben teilweise bessere Chancen berücksichtigt zu werden, eben weil ihre Noten besser sind. Vorallem sollten aber die wirklichen Werte Einzug in die Bewerbungswelt der Kinder finden. Unsere Kinder sind doch viel mehr als eine Note in Mathe und Franz?! Wie oft sage ich zu meiner Tochter, dass leider alle wirklich relevanten F?higkeiten, die im Leben wichtig sind, in der Schule nicht geprüft werden. Dass sie leider für ihre Empathie, ihr Sozialverhalten, ihren Gerechtigkeitssinn, ihr Querdenken, ihre F?higkeit mehr zu sehen und zu h?ren, leider nie eine Note erhalten wird. Dafür wird das bewertet, was heute alles per Mausklick abgerufen werden kann. Aber was ist denn relevant im Leben? Selbstverst?ndlich ist eine gute Grundausbildung wichtig, nur werden vielen sehr f?higen & motivierten Menschen weniger Chancen einger?umt. Und dies basierend auf der Annahme, dass die Note den Mensch und dessen Leistung ausmacht. Der erfolgreichste Uniabsolvent ist noch lange nicht der beste Manager / der beste Mitarbeiter. Und auch nicht der bessere Mensch.
Lebenslanges Lernen m?glich machen: ?Wir stellen Bildung auf den Kopf und den Menschen ins Zentrum“, Gründer des Lernhaus Sole & der #Schulwandel Stiftung
1 年Simon ?? Schmid this is your call! Mit deinem lebendigen Berufwahl Lehrmittel fürs 21. Jahrhundert!! Profolio | #schulwandel